Wirtschafts- und Arbeitsministerin Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut hat am Mittwoch (4. Oktober) gemeinsam mit den beteiligten Forschungsinstituten ein umfassendes Gutachten zu Status quo und Perspektiven des Wirtschaftsstandortes Baden-Württemberg im nationalen und internationalen Vergleich vorgestellt. Es wurde vom Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) und dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) sowie dem Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München erstellt.
„Das umfassende Gutachten zeigt fundiert auf, wie sich Baden-Württemberg seit der großen Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2007/2008 entwickelt hat, wie es um unsere Wettbewerbsfähigkeit steht und welche Schlussfolgerungen wir für die Wirtschaftspolitik des Landes ziehen können“, sagte Hoffmeister-Kraut. Zugespitzt könne man sagen, „dass der Südwesten Deutschlands als Wirtschaftsstandort heute besser denn je dasteht und seine Wettbewerbsfähigkeit in den letzten zehn Jahren nochmals deutlich steigern konnte. Das Gutachten benennt aber auch klare Hausaufgaben, die wir erledigen müssen, um diese Stärke zu erhalten“, so die Ministerin.
Auch wenn eine systematische und detaillierte Analyse des Gutachtens aus verschiedenen Perspektiven noch ausstehe, ergebe sich bereits genügend Diskussionsstoff hinsichtlich der Gestaltung künftiger Wirtschafts- und Standortpolitik:
Innovationsförderung forcieren
Obwohl das Land bereits zahlreiche Angebote zur Innovationsförderung gerade auch für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) bereithalte, zeige die Analyse, dass das Innovationsgeschehen im Land gerade bei diesen Unternehmen zurückgehe. „Ich werde daher unsere Förderprogramme gesamthaft unter die Lupe nehmen, auf Effizienz und Effektivität und damit auf Ergänzungs- und Optimierungsbedarfe prüfen lassen“, kündigte Hoffmeister-Kraut an. „Einen besonderen Fokus werden wir dabei auf die kleineren Unternehmen legen.“
Entscheidend sei dabei, Innovationsförderung stärker als bisher auch als Förderung der Start-up-Szene und neuer Geschäftsmodelle zu begreifen, insbesondere auch in der sogenannten Seed-Phase junger Unternehmen. „Es darf nicht sein, dass viele auf dem Weg vom Prototypen zum Markteintritt scheitern. Mit dem Programm ‚Start-up BW Seed‘ möchte ich gerade die Frühphasenfinanzierung junger Unternehmen gezielt angehen“, so Hoffmeister-Kraut.
Dienstleistungsbereich mit Wachstums- und Entwicklungspotenzial
Das Gutachten zeige, dass Baden-Württemberg durch seine exportorientierten Kernbranchen wie Automobil-, Anlagen- und Maschinenbau gegenüber Wettbewerbern zwar stark aufgestellt, in Krisenzeiten jedoch auch risikoanfälliger sei. „Neben unseren Kernbranchen müssen wir künftig noch stärker die Wachstums- und Entwicklungspotenziale des Dienstleistungsbereiches – gerade bei Unternehmensdienstleistungen – in den Blick nehmen. Dies könnte dazu beitragen, weniger vom Exportgeschehen abhängig zu sein“, so die Ministerin. Sie werde diesen Aspekt in die Evaluierung der Förderprogramme ihres Hauses einbeziehen.
Neue Wertschöpfungsfelder erschließen
Hoffmeister-Kraut: „Die Stärke unserer Kernbranchen ist zugleich unsere Achillesferse.“ Die Digitalisierung, aber auch der bevorstehende Transformationsprozess in der Mobilität bringen außer Chancen auch Unwägbarkeiten mit sich. „Unsere Strategie muss es daher sein, diese Stärken aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln, zugleich aber neue Wertschöpfungsfelder zu erschließen“, unterstrich die Ministerin. Hierfür böten sich Branchen an, die im Land bereits in kritischer Masse vorhanden und ausbaufähig seien. „Ich denke hier an die Gesundheitswirtschaft und Medizintechnik, digitale Unternehmensdienstleitungen, wie sie unsere IT-Cluster bereits bieten, aber auch an die stärkere wirtschaftliche Nutzung biotechnologischer Forschung und der Lebenswissenschaften.“
Neujustierung der Standortpolitik
„Wir müssen in der politischen Diskussion noch wesentlich mehr unsere Aufmerksamkeit auf die Frage richten, welches die entscheidenden Voraussetzungen sind, damit sich Unternehmen neu in Baden-Württemberg ansiedeln bzw. hierbleiben“, forderte die Ministerin. „Wir müssen uns mit den besten Standorten international messen.“ Alle Faktoren, die Innovationen und Unternehmensgründungen positiv beeinflussen können, müssten noch stärker als bislang ressortübergreifend bearbeitet werden: „Wir brauchen eine Standortpolitik aus einem Guss für Baden-Württemberg!“
Fachkräfte-Sicherung als zentrale Aufgabe
Da sich der Fachkräftemangel zunehmend als Hindernis im Innovationsgeschehen und im Standortwettbewerb erweise, bleibe die Sicherung des Fachkräftebedarfs zentrale Aufgabe auch ihres Hauses, betonte Hoffmeister-Kraut. „Wir müssen die Potentiale in Baden-Württemberg noch besser nutzen.“ Im Fokus stünden dabei nicht nur die Gewinnung von mehr Frauen als Fachkräfte oder die Stärkung der MINT-Berufe, es gehe auch um Fragen der Qualifizierung und Weiterbildung sowie darum, das Potential älterer Beschäftigter noch besser zu erschließen, nannte die Ministerin als Beispiele. „Auch die Fachkräfteallianz muss diese Herausforderung noch schlagkräftiger angehen. Mein Haus wird hierfür einen konkreten Vorschlag zur Neukonzeption der Allianz erarbeiten“, so Hoffmeister-Kraut. Flankierend sei aber auch ein Zuwanderungsgesetz auf Bundesebene nötig, das „die Zuwanderung qualifizierter und in unserem Arbeitsmarkt erforderlicher Fachkräfte klar steuert und bedarfsgerecht und effizient gestaltet“, forderte die Ministerin.
Risiken und Chancen im Außenhandel
Mit dem Gutachten wurden auf Länderebene bislang einzigartige Simulationsberechnungen zu möglichen Folgen diverser Brexit-Szenarien sowie einer protektionistisch ausgerichteten Politik von Seiten der USA für Baden-Württemberg durchgeführt.
Baden-Württemberg ist über den Warenhandel noch stärker international verflochten als die Bundesrepublik als Ganzes und dies hat von 2006 bis 2016 weiter zugenommen, wobei eine Tendenz zum Fernhandel (insb. USA und China) festzustellen ist. Hoffmeister-Kraut: „Das ist ein eindrücklicher Beleg unserer Wettbewerbsfähigkeit, verdeutlicht aber zugleich das besondere Risiko, das Baden-Württemberg angesichts protektionistischer Tendenzen ausgesetzt ist.“
Diese hätten mitunter starke negative Effekte auf die Exporte in der Elektroindustrie, dem Maschinen- und Fahrzeugbau, die sich auch auf das Realeinkommen auswirken würden.
Gleiches gilt für den Brexit, wenngleich die negativen Effekte hier nicht ganz so stark seien. „Wir treten weiterhin für eine auch in Zukunft möglichst enge Anbindung der britischen Wirtschaft an den europäischen Binnenmarkt ein“, betonte Hoffmeister-Kraut. „Zugleich sollten wir unser Augenmerk aber auch auf Chancen richten, die sich mit dem Austritt Großbritanniens für unsere Unternehmen in anderen Märkten - insbesondere innerhalb der EU – ergeben könnten.“
Ausgewählte Ergebnisse des Gutachtens:
- Mit dem Gutachten wurde erstmals eine Analyse der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit Baden-Württembergs seit 2007/2008 mit Hilfe einer umfassenden Auswertung nationaler und internationaler Daten vorgenommen. Die Zeit nach der großen Wirtschafts- und Finanzkrise brachte für Deutschland einen bis heute anhaltenden Aufschwung (vom „kranken Mann Europas“ zum ökonomischen „Superstar“). Baden-Württemberg konnte dabei von seiner export- und technologieorientierten Wirtschaftsstruktur massiv profitieren, traditionelle Stärken kamen voll zur Geltung. Die ohnehin schon starke Position im nationalen und internationalen Wettbewerb konnte nicht nur behauptet, sondern weiter ausgebaut werden.
- Ausschlaggebend dafür waren positive Entwicklungen der technologischen und der preislichen Wettbewerbsfähigkeit der Südwest-Wirtschaft. Während die technologische Wettbewerbsfähigkeit unter anderem in einer hohen Innovationsintensität zum Ausdruck kam, schlug sich der preisliche Effekt in einer ausgesprochen günstigen Entwicklung der Lohnstückkosten nieder. Letzteres wurde ermöglicht durch hohe Produktivitätsgewinne bei gleichzeitig moderater Lohnentwicklung.
- So ist die Arbeitsproduktivität von 2005 bis 2015 im Land um ca. 25 % gestiegen. Baden-Württemberg ist damit signifikant weniger als Vergleichsstandorte vom globalen Rückgang des Produktivitätsfortschritts („global productivity slowdown“) betroffen. Eine rege Investitionstätigkeit und forcierte Verfahrensinnovationen vor allem im Verarbeitenden Gewerbe haben dafür die Grundlage geschaffen.
- Insgesamt konnte die baden-württembergische Wirtschaft enorme Vorteile auch aus erfolgreichen Internationalisierungsstrategien ziehen und ist ein Gewinner der Globalisierung in der letzten Dekade.
- Die hohe Wettbewerbsfähigkeit findet ihren Niederschlag in einer sehr hohen Wirtschaftskraft pro Kopf. Hier liegt Baden-Württemberg in etwa gleichauf mit Bayern und Hessen um 15 Prozent über dem Bundesdurchschnitt und auch weit vor Vergleichsländern wie Niederlande, Schweden, Frankreich und Großbritannien.
- Entsprechend günstig war hierzulande die Einkommensentwicklung. Die breite Bevölkerung Baden-Württembergs profitiert von der Wirtschaftskraft.
- Mit erstmals auf Länderebene durchgeführten Simulationsberechnungen, die quantitative Angaben zu möglichen Auswirkungen diverser Brexit-Szenarien und protektionistischer Maßnahmen der USA auf Außenhandel, Wertschöpfung und Realeinkommen (Wohlfahrtseffekte) in Baden-Württemberg machen, zeigt das Gutachten, dass eine protektionistische Handelspolitik insbesondere Automobilindustrie und Maschinenbau mit einem Exportrückgang von 5 bis 7 Prozent und damit auch das wirtschaftliche Wachstum Baden-Württembergs empfindlich treffen könnte.
- In einem perspektivischen Teil haben sich die Institute auch mit gegenwärtigen Transformationsprozessen in der Automobilindustrie und im Maschinenbau befasst. Hier wurden mögliche Szenarien beschrieben und auf ihre Wirkungen auf Produktion und Beschäftigung in Baden-Württemberg untersucht. Des Weiteren wurden der Dienstleistungsbereich und insbesondere die Gesundheitswirtschaft in Baden-Württemberg unter die Lupe genommen.
- Ferner wurde das Innovationsverhalten kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) eingehend untersucht. Dabei zeigt sich, dass der Anteil innovierender KMU in den letzten Jahren von 54 auf 48 Prozent spürbar gesunken ist.
Managementfassung Strukturanalyse