Wirtschaftsministerin Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut hat am Montag (26. November) anlässlich des von ihr gemeinsam mit dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) sowie Kammern, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften des Landes initiierten Wirtschaftskongresses Brexit die noch immer bestehenden Unwägbarkeiten hinsichtlich des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU betont und auf die Bedeutung umfassender Vorbereitungen in den Unternehmen verwiesen: „Wirtschaftspolitisch ist zunächst prioritär, dass ein harter Brexit im kommenden März abgewendet wird. Der Weg zu einem geordneten Brexit bleibt jedoch steinig. Eine jeweils passende Brexit-Strategie ist für unsere exportorientierten Unternehmen daher wichtiger denn je“, sagte Hoffmeister-Kraut.
Mit Blick auf die noch ausstehende Abstimmung des britischen Parlaments mahnte Hoffmeister-Kraut, das Austrittsabkommen müsse jetzt unverzüglich zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU verbindlich vereinbart werden.
Harten Brexit abwenden
Viele Unternehmen aus dem Südwesten arbeiteten mit britischen Firmen und Forschungseinrichtungen in hochkomplexen Wertschöpfungsnetzwerken zusammen. Ein Austritt ohne Austrittsabkommen und ohne Übergangsphase hätte somit gravierende Konsequenzen für die Wirtschaft Baden-Württembergs, so die Ministerin. Sie verwies dabei auf Zölle, Einschränkungen bei der Entsendung von Mitarbeitern oder auch Engpässe in der Logistik.
Die Geschlossenheit der EU-Staats- und Regierungschefs beim Sondergipfel in Brüssel am Vortag sei eine wichtige Botschaft auch für die zukünftigen Beziehungen der verbleibenden EU-Mitgliedstaaten untereinander. „Wir dürfen nie vergessen, dass Stabilität, Wohlstand und Prosperität in Europa darauf basieren, dass die Länder Europas kooperieren.“
Von der britischen Seite erwarte sie, dass diese im Interesse aller Beteiligten – Wirtschaft und Bürger – in den nächsten Wochen die Weichen für einen geordneten Brexit stelle. Für die Unternehmen sei es allerhöchste Zeit zu wissen, worauf sie sich einstellen müssten. Solange noch offen sei, wie die Entscheidung des britischen Unterhauses ausfallen werde, müsse die verbleibende Zeit zu intensiven Vorbereitungen auch für einen ungeordneten Brexit genutzt werden, betonte die Ministerin.
Wirtschaft braucht zügig Eckpunkte für künftiges Handelsabkommen
Mit dem Austrittsabkommen und der in Aussicht gestellten knapp zweijährigen Übergangsphase gebe es jedoch „nur eine kurze Atempause“. Hoffmeister-Kraut: „Mit dem Austrittsabkommen ist die Unsicherheit aufgeschoben, aber nicht aufgehoben.“ Die Übergangsphase bis Ende 2020 sei extrem ambitioniert. Es sei nahezu unrealistisch, in dieser Zeit ein verbindliches Abkommen über die weiteren Handelsbeziehungen bis zur Unterschrift zu verhandeln. Um die Unsicherheit der Unternehmen zu reduzieren, müssten daher so schnell wie möglich mindestens verbindliche Eckpunkte dafür vereinbart werden: „Innerhalb der Übergangsphase braucht die Wirtschaft Klarheit über Eckpunkte der künftigen Handelsbeziehungen. Die Verständigung darüber darf nicht so lange dauern wie bei CETA oder JEFTA.“
Diese Eckpunkte seien aus ihrer Sicht zwingend folgende: „Keine Zölle. Öffnung der Waren- und Dienstleistungsmärkte. Möglichst einfache Entsendung.“ Zudem müsse Großbritannien auch das öffentliche Beschaffungswesen für Unternehmen vom Kontinent offenhalten oder Berufsabschlüsse anerkennen. Zudem solle das Vereinigte Königreich auch weiterhin alle produktbezogenen Regeln der EU übernehmen: „Bei Produktzulassungen, der Kennzeichnung von Produkten oder der Anerkennung von Marken müssen wir auch künftig einen gemeinsamen Weg gehen.“
Brexit-Check für Unternehmen
Rund 400 Vertreterinnen und Vertreter aus baden-württembergischen Unternehmen nutzten den Kongress, um sich über die aktuelle Verhandlungslage, wirtschaftliche Konsequenzen des Brexit sowie konkrete Vorbereitungsmöglichkeiten zu informieren. Das große Interesse am Kongress zeige, dass die baden-württembergische Wirtschaft die Vorbereitung auf den Brexit sehr ernst nehme. Viele Unternehmen hätten bereits Vorkehrungen getroffen und eine Brexit-Strategie entwickelt, betonte die Wirtschaftsministerin.
Grundsätzlich riet Hoffmeister-Kraut: „Ich rate den Unternehmen, ihre Vorbereitungsmaßnahmen weiter voranzutreiben. Wichtig ist, sich mit dem Thema Brexit und den möglichen Auswirkungen auf ihre Betriebsabläufe zu befassen. Dafür gibt es sehr gute Check-Listen seitens der Verbände und Kammern. Bei einem solchen Brexit-Check sollten folgende vier Themen im Mittelpunkt stehen: Wertschöpfungsketten, Zölle, Verträge und die Entsendung von Mitarbeitern.“
So könnten bei dem derzeitigen Exportvolumen Baden-Württembergs nach Großbritannien, das rund elf Milliarden Euro umfasse, erhobene Zölle von durchschnittlich 4,3 Prozent eine Mehrbelastung der Unternehmen aus dem Südwesten in Höhe von rund 473 Millionen Euro jährlich bedeuten. Der damit verbundene bürokratische Mehraufwand wäre zudem enorm, so Hoffmeister-Kraut. Ins Vereinigte Königreich etwa für Servicearbeiten entsandte Mitarbeiter könnten von Visumsplicht sowie Änderungen im Arbeits-, Sozialversicherungs- und Steuerrecht betroffen sein. „Alle diese Szenarien müssen unsere Unternehmen jetzt für sich durchspielen und Antworten hierauf entwickeln“, unterstrich die Ministerin.
Auch das Wirtschaftsministerium begleite den Brexit-Prozess sehr intensiv und stehe in ständigem Austausch sowohl mit der EU als auch mit den Unternehmen und Verbänden des Landes. Dafür sei im Wirtschaftsministerium eine Kontaktstelle Brexit eingerichtet worden, die den Unternehmen bei allen Fragen und Anliegen zum Brexit zur Seite stehe. Zusätzlich führe das Wirtschaftsministerium Investorengespräche mit internationalen Unternehmen, die bisher ihren Sitz im Vereinigten Königreich hätten und nach dem Brexit auf einen neuen Standort in der EU angewiesen seien.
„Der Brexit beschäftigt mich aber nicht nur als Wirtschaftsministerin, sondern auch als Europäerin“, so Hoffmeister-Kraut abschließend. „Ich wünsche mir auch ganz persönlich, dass im Vereinigten Königreich eine Entscheidung gefällt wird, die das Wohl der Bürgerinnen und Bürger beider Seiten berücksichtigt.“ Die britische Premierministerin May habe zurecht darauf verwiesen, dass das Vereinigte Königreich nur die EU, nicht jedoch Europa verlassen wolle. Hoffmeister-Kraut: „Es ist daher im Interesse aller, dass das Vereinigte Königreich und die EU Partner bleiben.“
Weitere Informationen online:
https://wm.baden-wuerttemberg.de/de/wirtschaft/wirtschaftsstandort/brexit/
Statements der Partner
Heinrich Baumann, Präsident des Landesverbands der Baden-Württembergischen Industrie e. V. (LVI): „Die Verunsicherung bei unseren Unternehmen ist groß. Sie befürchten starke Einschränkungen wie Verzögerungen im Gütertransport, steigende Kosten und die Unterbrechung funktionierender Wertschöpfungsketten. Die Wirtschaft braucht verlässliche und offene Handelsbeziehungen zum Vereinigten Königreich.
Thomas Baumann, Vorstand des Verbands Spedition und Logistik Baden-Württemberg e. V.: „Die Logistikbranche sieht in der diskutierten Übergangsphase bis 2020 die einzige Chance, ein für alle Beteiligten unzumutbares Brexit-Chaos zu verhindern. Ein utopischer Gedanke, binnen 125 Tagen Tausende Spezialisten für Zoll und Wirtschaft zu rekrutieren.“
Dr. Dietrich Birk, Geschäftsführer, VDMA Baden-Württemberg: „Großbritannien ist Exportmarkt Nr. 5 für den baden-württembergischen Maschinenbau. Der Ausstieg Großbritanniens aus der EU hat bereits zu viel Verunsicherung geführt und die Gefahr eines harten Brexit ist noch nicht abgewendet. Daher sollten sich die Betriebe jetzt vorbereiten und ihre Wertschöpfungsketten brexitfest machen.“
Till Blässinger, Vizepräsident von grosshandel-bw: „Mit der Einigung wurde ein wichtiger Meilenstein genommen. Und dennoch bleibt fraglich, ob auf den letzten Metern nun die nationalen Parlamente und insbesondere das britische Parlament ihrer Verantwortung gegenüber den Bürgern gerecht werden und Vernunft walten lassen, um einen ungeordneten Austritt zu verhindern.“
Dr. Björn Demuth, Präsident des Landesverbands der Freien Berufe Baden-Württemberg e. V.: „Wir bedauern, wenn es tatsächlich zum Brexit kommt. Europa und Freizügigkeit sind uns sehr wichtig. Insofern begrüßen wir die Verhandlungsfortschritte. Stand heute ist aber leider noch unklar, wie das Verhältnis zwischen England und EU nach der vereinbarten Übergangsperiode aussehen soll. England und EU dürfen sich nicht entfremden und sollten auch nach einem Brexit eng miteinander zusammenarbeiten. Es darf keine rechtlichen und steuerrechtlichen Unsicherheiten geben.“
Ralf Diemer, Leiter Europapolitik und Büro Brüssel, Verband der Automobilindustrie e. V.: „Das Vereinigte Königreich ist für die deutsche Automobilindustrie der zweitgrößte Absatzmarkt in der EU und zugleich mit über 100 Werken ein ebenso wichtiger Produktionsstandort für deutsche Hersteller und Zulieferer. Über 50 Prozent aller dort hergestellten Fahrzeuge gehen in die EU. Das wechselseitige Handelsvolumen beim Auto beträgt jährlich über 30 Milliarden Euro. Der Brexit gefährdet Arbeitsplätze auf beiden Seiten. Dies gilt es zu vermeiden.“
Dr. Roman Glaser, Präsident des Baden-Württembergischen Genossenschaftsverbands e. V.: „Großbritannien ist ein wichtiger Wirtschaftspartner für unsere Mitgliedsunternehmen. Genossenschaften aus den Branchen Handel, Landwirtschaft und Bankwesen benötigen Planungssicherheit. Wichtig daher: einheitliche Exportregelungen für Produktkennzeichnung und Markenanerkennung.“
Wolfgang Grenke, Präsident des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertags (BWIHK): „Die Wirtschaft in Baden-Württemberg profitiert vom Europäischen Binnenmarkt in hohem Maße - rund die Hälfte unserer Exporte gehen in die EU-28. Dafür sind eine möglichst freie Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenfreizügigkeit sowie geringe Kostenbelastungen durch Zölle/Steuern erforderlich.“
Martin Kunzmann, Vorsitzender DGB Baden-Württemberg: „Der Brexit und seine Folgen dürfen nicht auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgetragen werden. Deshalb werden wir den Brexit-Austrittsvertrag daran messen, welche Maßnahmen er für den Erhalt der Arbeitsplätze und den Schutz der Arbeitnehmer/innen-Rechte vorsieht. Unverzichtbar ist außerdem die Friedenssicherung in Nordirland.“
Thomas Mayer, Hauptgeschäftsführer und Vorstand, Chemie-Verbände Baden-Württemberg: „Unsere 450 Unternehmen der chemischen und pharmazeutischen Industrie sind global orientiert – und viele auch in Großbritannien engagiert. Für sie mit ihren 110.000 Beschäftigten gilt: Ein ‚harter BREXIT‘ darf nicht zum Exit für den Freihandel werden!“
Dr. Petra Püchner, Europabeauftragte der Ministerin für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau des Landes Baden-Württemberg, Leiterin Steinbeis-Europa-Zentrum: „Für den EU-Forschungs- und Innovationsraum ist es wichtig, dass Innovatoren und Forschern aus UK die Teilhabe an gemeinsamer Forschung und Entwicklung ermöglicht wird und EU-Schutzrechte anerkannt werden.“
Rainer Reichhold, Landeshandwerkspräsident: „Unser Handwerk schafft in der ganzen Welt. Wir werden auch weiterhin unsere Leistungen in Großbritannien anbieten. Die Betriebe brauchen aber zeitnah Rechtssicherheit, um etwa Montagen vor Ort kostendeckend kalkulieren zu können und Mitarbeiter legal zu entsenden.“
Michael Schmidt, Präsident der British Chamber of Commerce in Germany (BCCG): „Die BCCG steht mit ihren über 800 Mitgliedern und Firmen für gute Wirtschafts- und politische Beziehungen zu Großbritannien. Wir setzen uns dafür ein, dass auch in Zeiten des BREXIT dieses Verhältnis keinen Schaden nimmt. Dazu dienen unsere Veranstaltungen, das aktive und wirksame Netzwerk der Mitglieder und unsere zahlreichen Medienkanäle.“
Dr. Kai Schmidt-Eisenlohr, Geschäftsführer Baden-Württemberg International: „Der Brexit ist für Baden-Württemberg Herausforderung und Chance zugleich: Großbritannien ist für unsere Unternehmen ein wichtiger Handelspartner – und sollte es auch nach seinem EU-Austritt bleiben. Bei möglichen Investoren positionieren wir den deutschen Südwesten als Innovationsregion Nr. 1 in Europa und damit als attraktive Standortalternative in der EU.“
Peter Schneider, Präsident Sparkassenverband Baden-Württemberg: „Trotz der vorläufigen Einigung auf ein Austrittsabkommen ist ein ungeregelter Brexit heute wahrscheinlicher denn je. Das gefährdet Wachstum in Deutschland und Europa. Auf dieses Worst-Case-Szenario müssen die Unternehmen und die Finanzwirtschaft bei uns in Baden-Württemberg unbedingt vorbereitet sein.“
Prof. Achim Wambach PhD, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW): „Großbritannien ist Deutschlands fünftgrößter Handelspartner und ein wichtiger Standort im globalen Wertschöpfungsnetzwerk deutscher Unternehmen. Eine gute Zusammenarbeit ist daher auch nach dem Brexit wichtig für den Wohlstand beider Volkswirtschaften.“
Dr. Stefan Wolf, Vorsitzender des Arbeitgeberverbands Südwestmetall: „Großbritannien ist für unsere Unternehmen ein Absatzmarkt von großer Bedeutung. Deutsche Produkte machten zuletzt immerhin 14,5 Prozent aller britischen Importe aus, auf den Plätzen zwei und drei folgen China mit neun Prozent und die Niederlande mit 8,6 Prozent.“